Interview mit Dr. Thomas Steffen veröffentlicht in der Synapse 3/22
Am 6. Januar 2022 war Ihr letzter Arbeitstag als Basler Kantonsarzt. Was waren die Gründe, in Frühpension zu gehen?
Letztlich ist es, wie fast immer bei solchen Lebensentscheiden, das Wissen um die eigene Endlichkeit, welche sich darin spiegelt. Wir fragen uns, ob wir den bisherigen Weg weitergehen sollen, oder ob wir nicht doch noch einmal etwas ganz Anderes wagen sollten. Es liegt neben aller Anstrengung eine Magie in solchen neuen Wegen.
Welchen Einfluss hatte die Pandemie auf Ihren Rücktrittsentscheid?
Die Frage, wann der richtige Zeitpunkt für einen Rücktritt gekommen ist, beschäftigte mich schon vor der Pandemie. In der Pandemie wurde mir klar, dass am Ende dieser doch sehr aussergewöhnlichen Zeit der Punkt gekommen ist, wo ich zu etwas Neuem aufbrechen möchte. Wieder zurückzugehen in den normalen Verwaltungsalltag in welchem ich rund 20 Jahre tätig war, konnte ich mir nur schwer vorstellen. Das Gefühl die Zeit läuft einem davon und man macht immer weniger von dem, was man wirklich wichtig findet, wurde mit den Jahren stärker.
Was ist für Sie denn wirklich wichtig?
Die Menschen, für die wir Dienstleistungen erbringen und die Teams, welche diese Dienstleistungen für die Bevölkerung bereitstellen. Ich bin ein grosser Verfechter von modernem Betriebsmanagement, um hochstehende Dienstleistungen erbringen zu können. Leider enden heute viele Managemententwicklungen aber in einer Überstrukturierung, welche den Menschen gar nicht mehr dienen. Wir bewirtschaften dann genormte Arbeitsabläufe und Standarddokumente und fragen uns zu wenig «Braucht es das nun tatsächlich, um unsere Ziele zu erreichen?». Viele Fachpersonen erleben in Ihrem Alltag sehr ähnliches.
Sie waren seit 2011 Kantonsarzt in Basel: Welche Bilanz ziehen Sie? Welche Höhepunkte und/oder Tiefpunkte werden Sie in Erinnerung behalten?
Ich hatte das Glück fast 20 Jahre für den Kanton Basel-Stadt in leitender Funktion zu arbeiten. Da man in Basel-Stadt neben der kantonalen Funktion auch Aufgaben auf Höhe Gemeinde wahrnehmen kann ist die Arbeit sehr praxisnahe und befriedigend. So gehört beispielsweise die Einrichtung von bewegungsfördernden Kindergärten, der Aufbau von Café Bâlance in den Quartieren genauso zu den Höhepunkten wie die Einrichtung einer Spezialabteilung für psychisch belastete Insassen im Gefängnis. Die Tiefpunkte habe ich vergessen (lacht). Aber sehr herausforderungsreich war immer wieder, die nötigen Finanzen für Public Health Dienstleistungen zu bekommen. Kürzungen in diesem Bereich zeigen oft erst später ihre negativen Auswirkungen und dann ist es leider oft zu spät.
In den letzten knapp zwei Jahren standen Sie als Corona-Experte u.a. auf der nationalen Bühne im medialen Fokus. Wie haben Sie diese mediale und politische Exponiertheit und Dauerpräsenz erlebt? War das eine Belastung?
Das Positive an diesem Teil meiner Arbeit hat klar überwiegt. Ich bin jemand der gerne kommuniziert. Der Unterschied zwischen einem Patientengespräch und einem Radiointerview ist dabei gar nicht so gross. In beiden Fällen geht es darum Fachwissen verständlich zu vermitteln. Die Kommunikation ist ein entscheidender Faktor in der Krisenbewältigung. Mit ihr können zum Beispiel Ängste in der Bevölkerung abgebaut und das Verständnis für belastende Massnahmen erst geschaffen werden.
Wie haben Sie die Rolle der Medien während der Pandemie bezüglich Ihrer Arbeit wahrgenommen? Förderlich oder hinderlich?
Ich habe sie als förderlich wahrgenommen, auch wenn wir zeitweise mengenmässig an unsere Leistungsgrenzen gekommen sind. Neu ist sicher die rasante Geschwindigkeit. Wenige Minuten nach Veröffentlichung eines neuen Bundesratsentscheides kam schon die Anfrage an die Kantone, was nun gemacht würde.
Wie haben Sie die Pandemie persönlich erlebt?
Ich habe die Pandemie zeitlich wie inhaltlich als sehr intensiv und herausforderungsreich erlebt. Persönlich war sicher für meine Frau, meinen Sohn und mich sehr hilfreich, dass wir alle im Medizinbereich arbeiten und so immer gut verstanden, wo der Andere gerade steht und wie wir uns unterstützen konnten.
Wie beurteilen Sie das Covid-19 Krisenmanagement des Bundesrates und der Kantone BS und BL? Wie beurteilen Sie insbesondere die Covid-Exit-Strategie des Bundes, fast alle Massnahmen aufzuheben?
Bei dieser Frage würde ich gerne in eine Zeitmaschine gehen. Ich würde gerne wissen, wie die übernächste Generation uns mit zukünftigem Wissen beurteilt. Generell scheint es mir wichtig, dass man die Pandemieerfahrungen nun gut aufarbeitet, ohne sich in Schuldzuweisungen zu verlieren. Gerade in der Bereichen Führung, Kommunikation und Datenmanagement scheint mir ein grosses Lernpotential zu bestehen. So wurde beispielsweise die Covid-Exit-Strategie in meiner Wahrnehmung der Bevölkerung zu zurückhaltend erklärt.
Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage (Mitte April 2022) der Covid-19 Situation in der Schweiz und welche Prognose stellen Sie für die nächsten Jahre?
Aufgrund der hohen Immunität durch Impfung und Ansteckung sowie den günstigen saisonalen Faktoren rechne ich mit einem stabilen Frühling und Sommer. Der weitere Verlauf kann nicht sicher eingeschätzt werden. Vieles spricht dafür, dass das Coronavirus in den nächsten Jahren immer wieder ein Thema sein wird, analog der Spanischen Grippe, welche auch in den Folgejahren immer noch kleinere Wellen in den Wintermonaten erzeugen konnte. Vor diesem Hintergrund sollten Bund und Kantone weiterhin bereit sein, schnell auf ungünstige Lageveränderungen zu reagieren. Die epidemiologische «Feuerwehr» sollte weiterhin in Bereitschaft bleiben.
Wie hat die Covid-Pandemie unsere Gesellschaft Ihrer Meinung nach verändert? Ist sie solidarischer oder egoistischer geworden?
Wir haben in dieser Pandemie unterschiedliche Phasen erlebt von einer solidarischen Zeit zu Beginn zu einer teilweise tatsächlichen Polarisierung in Teilen der Bevölkerung mit entsprechend weniger Solidarität bis hin zu der wiedererlangten Normalität. Diese Reaktionsmuster sind auch bei anderen Krisen ähnlich. Eine tiefreifende Veränderung im Solidaritätsverhalten in die eine oder andere Richtung erwarte ich deshalb langfristig nicht. Wünschen würde ich mir aber zumindest, dass das aufbauende Gefühl der erlebten Solidarität in der ersten Welle etwas in uns bewahrt, werden könnten.
Wie interpretieren Sie die in der Schweiz (im europäischen Vergleich) relativ hohe Impfskepsis?
In der Schweiz ist Public Health also die bevölkerungsbezogene Sichtweise der Gesundheit seit Jahrzehnten unterentwickelt. Zwar gehören wir in der Medizin zu den führenden Ländern weltweit, aber im Public Health Bereich liegen wir bei vielen Themen deutlich zurück. So wurde zum Beispiel in den letzten Jahren die schulärztlichen Impfprogramme in vielen Kantonen abgebaut und man wunderte sich dann, warum wir nur schlechte Impfrate bei Kindern erreichen oder in der Bevölkerung in der Pandemie kein ausreichendes Verständnis für Impfungen vorhanden ist. Das Verständnis für Prävention und Gesundheitsschutz muss nachhaltig in einer Gesellschaft aufgebaut und unterhalten werden. Das kann nicht einfach auf Knopfdruck im Krisenfall erreicht werden.
Wie hat sich der Stellenwert der Wissenschaft während der Pandemie Ihrer Wahrnehmung nach verändert? Gibt es in der Schweiz eine zunehmende Wissenschafts-Skepsis?
Nein, ich denke es gibt keine generell zunehmende Wissenschafts-Skepsis. Teilweise beobachten wir sogar eine zunehmende Bedeutung der Wissenschaft in Teilen der Bevölkerung. So berufen sich beispielsweise die Jungen in der Klimabewegung ausdrücklich auf die Wissenschaft. In den Worten von Greta Thunberg vor Mitgliedern des US Kongresses «I don’t want you to listen to me, I want you to listen to the scientists.» kommt das gut zum Ausdruck.
Die zum Teil scharf ablehnenden Reaktionen einiger Gruppen aus der Bevölkerung auf wissenschaftliche Beiträge und Fakten zeigt aber auch, wie wichtig die nachhaltige bevölkerungsnahe Wissenschaftsvermittlung ist. Hier kann auch die Wissenschaft noch dazu lernen. Zum Teil bestanden grössere Missverständnisse zwischen Wissenschaft und Politik.
Missverständnisse zwischen Politik und Wissenschaft? Was meinen Sie damit?
Die Politik und die Wissenschaft sind zwei völlig unterschiedliche, in der Regel getrennte Universen, welche in der Pandemie wenig vorbereitet aufeinander trafen. Da trifft eine geordnete, auf möglichst gesichtetem Wissen aufbauende Forschungswelt auf eine politische, emotionale Gestaltungswelt, welche durchaus gewohnt ist, auch auf unsicherer Basis zu entscheiden. Die Rollen verwischten sich teilweise, wenn der Forscher in der Pandemie auf einmal wie ein Politiker klang und die Politikerin wie eine Epidemiologin. Das löste zum Teil in der Bevölkerung Irritationen aus und es würde sich lohnen hier die Rollenverteilung in solchen Krisen besser zu definieren und gemeinsam auszugestalten.
Was sind Ihre persönlichen Pläne für die Zukunft?
Beruflich habe ich anfangs Jahre in meiner eigenen Firma begonnen zu arbeiten. Ich unterstütze Einzelne und Institutionen bei der Entwicklung von Konzepten, Projekten oder bei der Team- oder Organisationsentwicklung im Gesundheits- und Sozialbereich. Daneben kann ich endlich wieder mehr Unterricht im Bereich Public Health geben, was mir viel Freude macht. Auch kann ich mich vermehrt wieder ehrenamtlich engagieren. Seit kurzem ist nun auch in unserer Familie Knut ein Havaneser Hundewelpe eingezogen. Er bringt meinen schon wieder durchorganisierten Arbeitstag regelmässig durcheinander und das ist sicher auch gut so.
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